Im Mai befasste sich das Bundesgericht mit einem gegenseitigen Näherbaurecht, wonach beiden benachbarten Grundeigentümern das Recht zusteht, bis auf einen Meter an die gemeinsame Grenze zu bauen. Die Kernfrage war: Welche Konsequenzen hat der – noch nicht bauende – Nachbar zu tragen, wenn der erstbauende Nachbar das Näherbaurecht beanspruchen will und sein Bauvorhaben bereits öffentlich-rechtlich bewilligt ist?
Öffentliches und privates Recht
Die Baubehörden beurteilen Baugesuche grundsätzlich nur nach öffentlichrechtlichen Kriterien, d. h. nach der Bauordnung und dem Zonenplan. Eine Baubewilligung wird erteilt, wenn die geplante Baute oder Nutzungsart den öffentlich-rechtlichen Bau- und Nutzungsvorschriften entspricht. Dadurch werden aber möglicherweise privatrechtliche Dienstbarkeiten zugunsten Dritter verletzt. Diesbezügliche Streitigkeiten müssen auf dem Zivilrechtsweg erledigt werden.
So kommt es immer wieder vor, dass – losgelöst von der geltenden Bauordnung – eine Vereinbarung zwischen Grundeigentümern abgeschlossen wurde, welche die bauliche Nutzung eines Grundstücks einschränkt oder erweitert. Solche privatrechtlichen Vereinbarungen werden in einem öffentlich zu beurkundenden Dienstbarkeitsvertrag abgeschlossen und im Grundbuch eingetragen. Dieser Eintrag im Grundbuch ändert jedoch nichts daran, dass im Baubewilligungsverfahren, wie erwähnt, einzig das öffentliche Recht relevant ist.
Konkreter Fall aus dem Kt. Glarus
In einer Glarner Gemeinde schlossen im Jahr 1990 zwei benachbarte Grundeigentümer einen Dienstbarkeitsvertrag über ein Näherbaurecht ab. Sie räumten sich dabei gegenseitig das Recht ein, bis auf einen Meter an die gemeinsame Grenze zu bauen, und liessen dies so im Grundbuch eintragen.
Einige Jahre später wollte der erste Grundeigentümer das bestehende Gebäude abbrechen und auf seinem Grundstück ein Mehrfamilienhaus errichten. Im Sommer 2019 erhielt er hierfür die Baubewilligung, gemäss welcher er einen Grenzabstand von 110 cm einzuhalten hatte.
Bei gegenseitigen Näherbaurechten ist stets daran zu denken, dass in der Regel nicht beide Grundeigentümer vom Dienstbarkeitsrecht profitieren können.
Der zweite Grundeigentümer klagte nun unter Verweis auf den Dienstbarkeitsvertrag beim Kantonsgericht Glarus und bewirkte, dass das Bauvorhaben vorerst nicht ausgeführt werden konnte. Das daraufhin vom ersten Grundeigentümer angerufene Obergericht Glarus hob das Urteil auf und gab grünes Licht für den Bau. Nun führte wiederum der unterlegene Grundeigentümer Beschwerde beim Bundesgericht und machte geltend, dass er sein eigenes Näherbaurecht in einem späteren Zeitpunkt gar nicht mehr ausüben könne, da er dann den Gebäudeabstand einhalten müsse.
In der Tat: Es besteht ein Gebäudeabstand von acht Metern, was den zweitbauenden Nachbarn um circa sieben Meter zurückdrängt. Dies gilt umso mehr, als dass er nicht erwarten darf, dass ihm eine Ausnahmebewilligung erteilt würde. Insgesamt ist der zweitbauende Nachbar also schlechter gestellt, als wenn kein Näherbaurecht bestehen würde.
Fazit des Bundesgerichts
Das Bundesgericht kommt zu folgendem Schluss: Ergibt sich weder aus dem Text des Dienstbarkeitsvertrags selbst noch aus den weiteren (objektiv erkennbaren) massgeblichen Umständen, dass die Vertragsparteien mit der Einräumung eines gegenseitigen Näherbaurechts eine Abrückungspflicht vorgesehen haben, darf der Erstbauende von seinem Näherbaurecht Gebrauch machen. Der (noch) nicht bauende Nachbar kann die Realisierung der Baute folglich nicht mit dem Argument verhindern, ihm werde wegen der öffentlich-rechtlichen Gebäudeabstandsvorschriften die Nutzbarmachung «seines» Näherbaurechts verwehrt. Beweise für ein vereinbartes Abrückungsrecht bei der damaligen Dienstbarkeitsbegründung, wonach beide Nachbarn gleichermassen von einem gegenseitig eingeräumten Näherbaurecht profitieren sollen, lagen nicht vor.
Konsequenzen für die Praxis
Bei einem gegenseitigen Näherbaurecht, das nicht unmissverständlich ein ebenfalls vereinbartes Abrückungsrecht enthält, profitiert der Erstbauende, d. h. derjenige, der zuerst über ein bewilligtes Bauprojekt verfügt. Der Zweitbauende muss später bei einem eigenen Bauprojekt von der Grenze abrücken, damit der öffentlich-rechtlich vorgegebene Gebäudeabstand eingehalten werden kann. Im aufgezeigten Fall durfte der erstbauende Nachbar das konkrete, bereits behördlich bewilligte Bauvorhaben somit realisieren.
Bei gegenseitigen Näherbaurechten oder auch Grenzbaurechten ist stets daran zu denken, dass in der Regel nicht beide Grundeigentümer vom Dienstbarkeitsrecht profitieren können. So muss grundsätzlich der Gebäudeabstand eingehalten werden, es sei denn, im Bau- und Zonenplanrecht ist die geschlossene Bauweise zulässig oder gar vorgeschrieben. Auch darf nicht darauf spekuliert werden, dass der Zweitbauende von der Baubehörde eine Ausnahmebewilligung erhält. All dessen muss man sich beim Abschluss eines Dienstbarkeitsvertrags bewusst sein – oder das Näherbaurecht unmissverständlich anders formulieren, insbesondere bezüglich eines Abrückungsrechts.
Urteil 5A_955/2022 vom 26. Mai 2023 (zur Publikation vorgesehen)
Roland Pfäffli Prof. Dr. iur., Notar, Thun Konsulent bei Von Graffenried Recht, Bern Mascha Santschi Kallay Dr. iur., Rechtsanwältin, Meggen Konsulentin bei epartners Rechtsanwälte AG, Zürich